Spannende Mediations-Fälle von Klarau (5. Teil)
Mein Mediations-Kollege André Thommen hat die Idee aufgebracht, reale oder fiktive Mediations-Geschichten zu erzählen. Mit Hilfe von spannenden oder lustigen Geschichten könnte die Mediation und insbesondere die Wirtschaftsmediation einem breiteren Publikum nähergebracht werden. Mediation ist eine wunderbare Möglichkeit, Konflikte lösen zu helfen.
Die Basis meiner Geschichten bildet ein Kriminalroman, den ich 2012 unter dem Pseudonym ‚von Klarau‘ geschrieben habe. Der Hauptprotagonist im Roman ‚Schmuggelware‘ – Clement von Klarau – ist Mediator. Im Roman wird Clement ohne Zutun und Verschulden in ein Verbrechen verwickelt. Bei der Lösung des Falles helfen ihm seine Mediations-Fähigkeiten. Daneben geht er nach wie vor seiner Berufung und seinem Beruf als Mediator nach und hilft, Konfliktparteien ihre Auseinandersetzungen einvernehmlich zu lösen.
Die weiteren Episoden finden Sie hier:
1. Teil – «Die höchste Form menschlicher Intelligenz ist, zu beobachten ohne zu bewerten»
2. Teil – «Die Kirche sagt, du sollst deinen Nächsten lieben. Ich bin überzeugt, dass sie meinen Nachbarn nicht kennt.»
3. Teil – «Was du ererbst von deinem Vater hast, erwirb es, um es zu besitzen»
4. Teil – «Die Feigheit tarnt sich am liebsten als Vorsicht oder Rücksicht.»
Ich hoffe, Sie haben ein wenig Spass beim Lesen der neusten Episode und lernen dabei vielleicht etwas Neues über die Mediation, wie Mediatoren und Coaches denken und erfahren zudem das eine oder andere «Mediations-Geheimnis».
Hinweis: Da die Originale dieser Mediations-Geschichten in ein Buch eingebettet sind, kann es sein, dass einige Passagen auf Gegebenheiten, Orte oder Menschen hinweisen, die an anderer Stelle im Buch vorkommen. Entsprechend kann der Leser ein paar Details vermissen. Ich traue jedoch den Lesern zu, evtl. fehlende Elemente mit der eigenen Fantasie zu ergänzen.
Andreas Betschart
Handlung und Personen sind frei erfunden. Sollte es trotzdem Übereinstimmungen zu lebenden oder verblichenen Personen geben, so würden diese auf jenen Zufällen beruhen, die das Leben so vorgesehen hat.
„Das Vorurteil ist die hochnäsige Empfangsdame im Vorzimmer der Vernunft.“
— Karl Heinrich Waggerl
Ich streckte meine Hand aus: „Guten Morgen Frau Meierhans.“
Wie zum Schutz hielt Frau Meierhans ihre Handtasche vor ihre ausladende Brust. Ich schätzte Frau Meierhans auf 70 Jahre. Sie hatte sich herausgeputzt und trug ihre Haare hochgesteckt. Die Haare schimmerten silbergrau, beinahe schon bläulich. Noch nie hatte ich eine so voluminösen Haarpracht auf einem so kleinen Kopf gesehen. Frau Meierhans Kopf und Frisur erinnerte mich ungewollt an einen überdimensionierten Champignon. Frau Meierhans war klein und korpulent und trug ein fein kariertes, orangefarbenes Kostüm. Die rötliche Fassung ihrer Brille kontrastierte mit ihren bläulichen Haaren. Sie war stark geschminkt und eine Parfumwelle schwappte mir entgegen. Ein harziger Start, zumal ich rein gar nichts mit Parfum anfangen konnte.
Frau Meierhans atmete schwer. Ich vermutete vor Aufregung, denn die paar Treppenstufen zur Eingangstüre konnten das kaum bewirkt haben. Sie ergriff meine Hand und drückte sie kraftlos.
„Herr von Klarau, es ist mir eine Ehre“, sagte sie beinahe unhörbar und ergriff wieder mit beiden Händen ihre Handtasche und hielt sie sich vor die Brust.
Hinter ihr sah ich einen Mann eintreten. Er wartete. Ich nahm an, dass dies Herr Faltstein, ihr Vermieter war.
„Herr von Klarau, Faltstein, Franz Faltstein“, sagte er und streckt mir seine Hand entgegen.
„Ah, Herr Faltstein, schön, Sie persönlich kennenzulernen“, begrüsste ich ihn.
„Ich habe Frau Meierhans mit meinem Wagen mitgenommen. Sie fährt selber nicht Auto“, sagte er beinahe entschuldigend.
„Das ist nett von Ihnen Herr Faltstein. Wie geht es Ihnen?“
„Gut gut, danke der Nachfrage“, sagte Herr Faltstein.
„Schön, schön“, sagte ich und wandte mich schnell wieder Frau Meierhans zu.
Ich musste aufpassen, dass ich mich nicht wiederholte, so wie es Herr Faltstein die ganze Zeit tat.
„Bitte nehmen Sie doch Platz“, ich zeigte mit einer einladenden Handbewegung auf die drei Sessel, die vor meinem Schreibtisch im Kaminzimmer aufgereiht waren und ging voraus.
Frau Meierhans lief in kleinen, wackligen Schritten zu den Sesseln vor meinem Schreibtisch. Ich stellte mich hinter einen Sessel und wartete, bis sie sich hinsetzte und half ihr dabei, den Sessel zurechtzurücken.
„Das ist aber aufmerksam, Herr von Klarau, wie ein Gentleman“, und hastig fügte sie hinzu, „ich habe von einem so edlen Herrn natürlich auch nichts anderes erwartet. Vielen Dank, das ist aber lieb!“
Frau Meierhans strahlte mich kurz über die Schulter an, bevor sie sich setzte.
Sie ruckelte noch ein wenig unruhig auf dem Sessel vor und zurück und blieb dann mit eng zusammengedrückten Beinen und durchgestrecktem Rücken auf der Kante des Sessels sitzen. Ihre Handtasche stelle sie sich auf die Knie und hielt sich weiter daran fest.
Herrn Faltstein bot ich einen weiteren Sessel an. Den Sessel in der Mitte liess ich frei für Frau Gökdan, die noch nicht erschienen war.
Herr Faltstein trug einen altmodischen, grauen Einreiher und eine überbreite Krawatte. Sie war grau wie sein Anzug. Ich hatte mit Herrn Faltstein erst zweimal telefoniert und hatte mir meine Vorstellungen gemacht, wie er wohl aussehen würde. Diesmal stimmten meine Vorstellungen mit der Realität erstaunlicherweise in vielen Punkten überein. Franz Faltstein hatte ein breites Gesicht, deutliche Nasolabialfalten und Hängebacken. Ein Doppelkinn komplettierte sein fülliges Gesicht. Er hatte einen perfekt von der Kopfhaut abgegrenzten Haarkranz. Kein graues Haar war zu sehen. Ich ging davon aus, dass er sich die Haare braun färbte, denn Herr Faltstein war 61 Jahre alt.
Ich offerierte Frau Meierhans und Herrn Faltstein ein Glas Wasser. Beide lehnten dankend ab. Da Frau Gökdan noch nicht eingetroffen war, führten wir zu Beginn ein belangloses Gespräch über das Wetter. Frau Meierhans erzählte von ihrem Unfall, den sie im Winter gehabt hatte. Sie war auf der Strasse ausgerutscht und hatte sich das Bein gebrochen.
„Wissen Sie Herr von Klarau, man wird auch nicht mehr jünger und die Knochen wachsen nicht mehr so schnell zusammen“, sagte sie.
„Sie sehen aber noch rüst…“, das Läuten der Türglocke unterbrach mich bei der Schmeichelei. Ich schaute auf die Uhr auf dem Computer-Bildschirm auf dem Tisch. Es war 08.20 Uhr. Den Besprechungstermin hatten wir auf 08.30 Uhr angesetzt. Frau Gökdan kam somit auch ein wenig früher zu unserem Mediationstermin.
Kurze Zeit drauf klopfte es an der Kaminzimmertüre und mein Schwiegervater Paul trat gefolgt von einer Frau ein. Frau Gökdan hatte bei unserem Telefongespräch erwähnt, dass sie alleine kommen würde.
Frau Gökdan war eine grossgewachsene, gertenschlanke Frau. Ich schätzte sie auf knapp 40 Jahre. Ihr nicht ganz schulterlanges, schwarzes Haar, trug sie als Bob. Ihre weisse kurzärmlige Bluse betonte die gebräunten Unterarme. Dazu trug sie einen anthrazitfarbenen Faltenrock, einen breiten schwarzen Gürtel mit einer wuchtigen Silberschnalle und bequeme schwarze Schuhe.
Ich stand auf und umrundete meinen Tisch, um sie zu begrüssen. Auch Herr Faltstein stand auf, während Frau Meierhans geschäftig in ihrer Tasche wühlte und Frau Gökdan keines Blickes würdigte.
„Ah Frau Gökdan, willkommen“, begrüsste ich sie und gab ihr die Hand.
„Bu konuyu sizinle görüşmeyi sabırsızlıkla bekliyorum“, sagte sie ernst und schüttelte meine Hand.
„Ich….“, war verunsichert. Sie konnte doch Deutsch? Oder hatte ich mit jemanden anderem aus der Familie gesprochen?
„Keine Angst, Herr von Klarau“, sagte sie lachend, in einem sehr verständlichen Deutsch, „Sie sollten doch wissen, dass ich auch sehr gut Deutsch spreche, schliesslich haben wir auch schon telefoniert. Was ich eben sinngemäss sagte: Ich freue mich darauf, diesen Sachverhalt mit Ihnen zu besprechen.“
Sie drehte sich zu Herrn Faltstein um.
„Herr Faltstein, schön Sie zu sehen“, sie schüttelte seine Hand. Sie wandte sich an Frau Meierhans, „Guten Tag Frau Meierhans. Es freut mich, auch Sie endlich zu treffen.“
Ganz langsam und prononciert, als ob sie mit einem begriffsstutzigen Kind sprechen würde, sagte Frau Meierhans: „Ah, Frau Nachbarin. Sie den Weg gefunden haben?“
Frau Gökdan lachte: „Frau Meierhans, ich kann sprechen gut Deutsch, Sie können mit Sprechen mir in ihres normales Sprach.“
Frau Meierhans schaute sie irritiert an: „Wie bitte?“
„Das war nicht nett von mir, entschuldigen Sie, ich habe mir einen kleinen Scherz erlaubt“, sagte Frau Gökdan, „leider hatten wir noch nie Gelegenheit, uns persönlich zu sprechen, Frau Meierhans. Für nicht mal ein ‚Hallo‘ im Treppenhaus hat es bis anhin gereicht. Eigentlich erstaunlich. Wir wohnen bereits ein Jahr im gleichen Wohnblock. Schade. Ich habe ein paarmal versucht, mich vorzustellen. Wahrscheinlich waren Sie aber jeweils nicht zu Haus, als ich klingelte.“
„Ach?“ sagte Frau Meierhans bloss und zog eine Augenbraue hoch.
„Bitte nehmen Sie doch Platz Frau Gökdan“ sagte ich und zeigte auf den mittleren der im Halbrund stehenden Sessel.
Sie nahm Platz. Herr Faltstein und ich setzten uns auch.
Nun waren wir komplett.
Vor gut einem halben Jahr hatte ich das erste Mal mit den anwesenden Parteien telefoniert. Dazumal hatte mich Franz Faltstein kontaktiert. Er war der Vermieter der Wohnungen, in denen unter anderem Frau Meierhans und die Familie Gökdan wohnten. Aufgrund der Beschwerden von Frau Meierhans über den Lärm und das Verhalten der Familie Gökdan, hatte Herr Faltstein der Familie Gökdan mit der Kündigung gedroht. Frau Gökdan hatte daraufhin Herrn Faltstein unmissverständlich dargelegt, dass sie eine solche Kündigung als unangemessen betrachtete und dagegen vorgehen würde.
Meine telefonischen Abklärungen hatten dazumal ergeben, dass lediglich Frau Meierhans einen Zwist mit der Familie Gökdan hatte. Weitere Mieter waren nicht involviert. Herr Faltstein hatte zugegeben, mit der angedrohten Kündigung voreilig gehandelt zu haben. Ihm war erst nach dem Telefongespräch mit mir aufgefallen, dass er selbst gar kein Problem mit der Familie Gökdan hatte.
Ich schlug ihm vor, anstelle einer zuerst angedachten Mediation zwischen der Familie Gökdan und ihm, doch besser eine Mediation zwischen Frau Meierhans und der Familie Gökdan anzusetzen. Wir sollten versuchen, zwischen diesen Nachbarn zu vermitteln. Er hatte dankbar zugestimmt. Er konnte auch Frau Meierhans überzeugen, an einer solchen Mediation teilzunehmen. Ausschlaggebend war gewesen, als sie gehört hatte, dass der Herr von Klarau, dieser Adelsherr, die Vermittlung übernehmen würde. Ich wusste nicht, was sie sich vorstellte, aber offenbar setzte sie mich auf eine Stufe eines Mitgliedes der Königshäuser, über deren Leben sie bestimmt in den einschlägigen Illustrierten las. Dabei hatte ich lediglich den Namen meiner Frau angenommen.
Leider konnte die Mediation, die zu Jahresbeginn angesetzt war, nicht durchgeführt werden. Der Unfall von Frau Meierhans im Dezember hatte dies verunmöglicht. An eine Mediation war dazumal vorerst nicht mehr zu denken. Keine der Parteien war offenbar so unter Druck, dass der Konflikt unmittelbar mit Hilfe einer Mediation angegangen werden musste. So hatten wir die Mediation auf unbestimmte Zeit vertagt. Als ich lange Zeit nichts mehr von den Parteien hörte, ging ich davon aus, dass sich das Ganze wundersam eingerenkt hätte und eine Mediation nicht mehr notwendig sein würde. Vor gut drei Wochen hatte mich Herr Faltstein jedoch wieder angerufen und den Fall in Erinnerung gerufen. Offenbar hatte sich Frau Meierhans einmal mehr über den Lärm der Familien Gökdan beschwert und Herrn Faltstein kontaktiert.
Ich machte die übliche Eröffnung und erklärte den drei Anwesenden den Ablauf der Mediation und versicherte mich nochmals, dass alle auch mitmachen wollten.
Frau Gökdan meinte: „Ich finde das gut, wenn man miteinander spricht. Bis anhin hatte ich ja diesbezüglich keine Möglichkeiten. Das gibt mir die Chance zu erfahren, wann und wo genau meine Jungs über die Stränge schlagen und darauf zu reagieren“, und direkt an Frau Meierhans gerichtet, „Wissen Sie Frau Meierhans, ich habe keine Vorstellung, was sie konkret stört. Ich habe nur mal was gehört, dass meine 3 Jungs im Treppenhaus zu laut gewesen sein sollten und dass sie auch ihre Fahrräder irgendwann nicht ordentlich hingestellt hatten. Also ich möchte das schon konkret wissen, denn es ist mir sehr wichtig, dass sie sich ordentlich benehmen, glauben Sie mir.“ Sie sagte dies mit Nachdruck.
«Danke Frau Gökdan für das Angebot an Frau Meierhans, den Sachverhalt zu erläutern. Ist es für Sie alle ok, wenn wir zuerst unsere Rollen bei dieser Mediation klären und wir dann in die Themen eintauchen?».
Ich sah ein allgemeines Nicken.
«Meine Rolle als Mediator haben ich Ihnen allen während unserem Telefonat erläutert. Sie Frau Meierhans und Sie Frau Gökdan vertreten Ihre Positionen und erläutern Ihre Interessen.
Ich richtete das Wort an Herrn Faltstein: „Können Sie bitte den Damen noch Ihre eigene Rolle in dieser Mediation erläutern Herr Faltstein.“
Herr Faltstein sagte mit einer nervösen Stimme: „Gut, gut, ja mache ich. Also, wissen Sie meine Damen, ich bin hier, in Absprache mit Herrn von Klarau, als Zuhörer oder so. Ich…ähm…halte mich mal zurück. Ich unterstütze diesen Prozess, ich finde das eine gute Sache. Daher habe ich das auch vorgeschlagen, müssen Sie wissen. Ich habe gut Erfahrungen gemacht. Also ich bin da nicht Partei, müssen Sie wissen.“
„Sie haben mir aber immer versichert, dass Sie mich verstehen, Herr Faltstein“, sagte Frau Meierhans mit empörter Stimme, „Sie haben gesagt, Sie werden für eine Lösung sorgen. Sie haben gesagt jedes Problem hat eine Lösung!“
„Ähm…ja, doch, ja…das ist schon so und daher sind wir hier, da ich an eine Lösung glaube“, er schaute mehr Frau Gökdan als Frau Meierhans an und suchte dann meinen Blick.
Ich wandte mich in Richtung Frau Meierhans: „Nun, Frau Meierhans, danke für das Stichwort. Welche Probleme sprechen Sie an? Bitte sagen Sie einfach mal frisch von der Leber weg, was sie beschäftigt. Das interessiert mich wirklich.“
Ich nickte ihr aufmunternd zu.
Sie hielt sich an ihrer Tasche fest und schaute rasch rüber zu Frau Gökdan, als ob sie sich versichern wollte, dass der Abstand auch gross genug war.
„Wenn Sie meinen, Herr von Klarau. Wissen Sie, ich habe ja sonst nichts gegen Ausländer“, begann Frau Meierhans zögerlich, „aber wer würde es einem verübeln, wenn jemand Nachbarn hat, die sich nicht an die Gepflogenheiten des Landes halten und daher Probleme bereiten? Ich meine, ich lese immer wieder in der Zeitung über diese Leute. Gerade gestern war in meiner Tageszeitung ‚Aug am Abend‘ wieder eine Meldung, wo eine ältere Frau in ihrer Wohnung überfallen wurde und wie kann es anders sein, auch da waren es irgendwelche Ausländer. Sie müssen zugeben, die Zeitungen sind voll davon und dann muss doch auch was dran sein. Meinen Sie nicht auch? Die würden das ja sonst auch nicht schreiben. Man kann nicht vorsichtig genug sein heutzutage, oder? Ich kann mich noch erinnern, als wir früher die Wohnungstüren nie abgeschlossen haben, stellen Sie sich das vor! Können Sie sich das heute noch vorstellen?“
Sie schaute mich herausfordernd an und fuhr fort, “gut, Sie sind ja von hier, Herr von Klarau, Sie verstehen mich sicher. Und diese Gewalttätigkeit dieser Frauen und Männer! Ich meine, es sind ja nicht mal mehr nur die Männer! Ich frage Sie, was ist hier los? Selbst diese ausländischen Frauen sind offenbar gewaltbereit. Da werden gleich die Fäuste genommen und Messer und diese Maschinenpistolen! Nur mal anschauen und schon wird man umgebracht».
Sie seufzte tief, «Ich war letzthin im Bus, da sass ich auf meinem Platz, wie immer, und da hat mich so ein ausländisch aussehender Jugendlicher beobachtet. Ich wusste, der wollte an mein Geld. Es ist dann nichts passiert, aber auch nur, weil ich zwei Stationen vor meiner Zielstation ausgestiegen bin. Zum Glück, der hätte mich doch abgepasst».
Frau Meierhans nestelte gedankenverloren an den Henkeln ihrer Tasche.
«Wissen Sie, ich bin aufmerksamer geworden, seit so viel passiert ist. Sie pflichten mir sicher bei, man kann nicht vorsichtig genug sein. Ich meine, ich mache den Ausländern ja auch keinen Vorwurf, die kennen das ja auch nicht anders von dort, wo sie herkommen. Das verstehe ich schon, die wachsen halt nicht so mit einem Rechtverständnis auf wie wir, und da ist halt sowas noch an der Tagesordnung. Verstehen Sie? Das kann ja nicht gut gehen, die sind einfach noch ein wenig zurück, so kulturell und ähnlich, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber damit kein falscher Eindruck entsteht, ich habe ja persönlich nichts gegen Ausländer.“
Sie machte eine Pause und schaute mich an.
Ich war baff.
Das war eine geballte Ladung von Ängsten, die Frau Meierhans teilte.
Ich wollte das Gesagte quittieren: „Verstehe ich Sie richtig, Frau Meierha….“, als sie mich unterbrach.
„Ach ja, was ich noch sagen wollte: Der Respekt, der ist weg. Alles ist so unpersönlich. Im Treppenhaus vielleicht mal ‚Hallo‘, das war’s dann auch schon. Aber mal fragen, wie’s einem so geht? Weit gefehlt. Ich finde das schade, müssen Sie wissen. Die Fahrstuhltüre offenhalten? Weit gefehlt. Und im Bus bieten die Jungen einem auch keinen Platz mehr an.“
„Danke für die Präzisierungen Frau Meierhans“, sagte ich, „Sie haben sehr treffend beschrieben, was sie beschäftigt. Das hilft.“
Da kam ja einiges zusammen.
Ganz vorurteilsfrei war Frau Meierhans offensichtlich nicht. Sie hatte sicher schlechte Erfahrungen gemacht, aber ihre Meinung war massgeblich geprägt von den Geschichten, über die sie lass oder die sie im Fernsehen sah. Ausser dem Ärger, den ihr die Familie Gökdal verursachte, schien sie bis anhin keine wirklichen Berührungspunkte mit ‚Ausländern‘ gehabt zu haben. Das war aber nur die eine Hälfte der Geschichte. Frau Meierhans fehlte wahrscheinlich die tägliche Wertschätzung.
Wer unschuldig ist, werfe den ersten Stein. Auch ich hatte meine Vorurteile und die schlugen auch wieder gnadenlos zu, als ich Frau Meierhans sah und sie hörte. Ich wollte sie nicht verurteilen, das wäre unprofessionell und unfair gewesen. Es war ihre Wahrnehmung. Sie sah die Welt durch ihre Brille und sie hatte Ängste. Es war auch nicht meine Aufgabe, auf die Weltanschauung von Frau Meierhans Einfluss zu nehmen. Unberührt liessen mich die Aussagen jedoch nicht.
Frau Meierhans hatte viel über sich offenbart. Es ging für mich nicht darum, Ihre Ansichten zu beurteilen. Ich hatte die Parteien zu unterstützen, ihren Konflikt zu lösen. Meine Position hatte neutral zu sein. Selbstverständlich hatte ich meine Sichten und Meinungen, jedoch ging es in einer Mediation nicht um diese. Es half bereits, dass ich mir bewusst war, welche Reaktionen gewisse Haltungen und Verhalten bei mir auslösten. Wenn mir das gelang, konnte ich diese Gefühle und Gedanken auf die Seite schieben. Die Mediation konnte ich dann wieder in der Haltung der Allparteilichkeit weiterführen. Dies war nicht immer ein leichtes Unterfangen. Ich hatte Mediationen schon abgerochen, weil ich gemerkt hatte, dass ich nicht mehr neutral bleiben konnte.
Mit den Informationen von Frau Meierhans konnten wir in der Mediation arbeiten. Es zeigte sich jetzt schon deutlich, welche Interessen und Wünsche hinter den Wahrnehmungen und Bedenken von Frau Meierhans lagen.
«Ich verstehe Sie», sagte Frau Gökdan verständnisvoll.
Wir alle schauten Frau Gökdan an.
Frau Meierhans klappte die Kinnlade herunter.
Wir ahnten wohl alle, in welche Richtung sich die Mediation entwickeln würde.
(Ende des 5. Teils).